Die Wikinger von Menzlin

Die Wikinger, die Vorfahren der heutigen Nordeuropäer, haben bei ihren weiträumigen Unternehmungen zur See, den sogenannten ” Wikingerzügen”, auch die Küstengegenden des heutigen Mecklenburg- Vorpommerns aufgesucht. Die Archäologie konnte in der jüngsten Zeit etliche materielle Hinterlassenschaften nordischen Ursprungs zwischen Wismar- und Oderbucht ermitteln, ja sogar Orte lokalisieren, die als Seehandelsplätze für Slawen und Wikinger gleichermaßen von Bedeutung waren und ein friedliches Zusammenwirken ermöglichten: Groß Strömkendorf bei Wismar, Dierkow bei Rostock, Ralswiek bei Bergen auf der Insel Rügen, Menzlin an der Peene bei Anklam und Wollin, das Vineta der Sage, auf der gleichnamigen heutigen polnischen Ostseeinsel. In der nach ihnen benannten ” Wikingerzeit” (800-1100), wurden die Nordländer demzufolge als Krieger, Händler und auch als Siedler in unserem Küstenraum mehr oder minder aktiv, die sich allmählich mit der einheimischen slawischen Bevölkerung assimilierten. Dieser Prozess vollzog sich auch in entgegengesetzter Richtung, indem sich Ostseeslawen auf den wikingerzeitlichen dänischen Inseln festsetzten und dort siedelten, bis sie von der nordischen Bevölkerung aufgesogen wurden. Zur archäologischen Sensation in Vorpommern wurde jedoch die großangelegte Grabung in Menzlin in der Peeneniederung, die in den Jahren 1965 bis 1969 im Auftrag des damaligen Museums für Ur- und Frühgeschichte Schwerin unter Leitung von Dr. Ulrich Schoknecht stattfand. Daran beteiligten sich auch zahlreiche Schüler aus Anklam und Umgebung. Aufgrund älterer Hinweise und Bodenfunde aus den Jahren 1905, 1927 und vor Beginn des 2. Weltkrieges auf den “Peenebergen”, auch “Alten Lager” oder “Tannenkamp” genannt, die auf einen frühmittelalterlichen Siedlungsplatz hindeuteten, konnte man bei den Menzliner Ausgrabungen systematisch mit Spaten, Schaufel und Spitzhacke vorgehen. Zwei Schwerpunkte mussten durch die Ausgräber bewältigt werden, die Siedlung und das Gräberfeld.

Neuerscheinung

Die Jomswikinger _ Nur ein Mythos?

Lutz Mohr

Edition Pommern
ISBN 978-3-939680-65-9
204 Seiten mit Abbildungen
€ 19,95 (D)Broschur, Größe 15 cm x 21 cm

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Auf dem sandigen bewaldeten Höhenzug in der nördlichen Peeneniederung kamen in einem Areal von 9,7 Hektar allmählich Teile einer “Siedlung” mit slawischen und wikingischen Funden zum Vorschein, wobei allerdings nur geringe Teile des Siedlungsplatzes untersucht werden konnten. Östlich davon wurden in erhöhter Lage ein 2,7 Hektar großes Gräberfeld mit schiffsförmigen Steinsetzungen – acht unterschiedlichen Ausmaßes -, elf Steinkreise, 33 Brandgräber und eine Ustrine (Verbrennungsplatz) freigelegt. Die Ausgrabungen in Menzlin erbrachten sensationelle Ergebnisse und bedeutende Erkenntnisse: Menzlin ist somit die einzige Nekropole (Begräbnisstätte) im südlichen Ostseegebiet, die ihr Vorbild eindeutig in Skandinavien hat. Sowohl die “Steinschiffe” als auch die Funde vom Siedlungsplatz und Grabbeigaben weisen entsprechend ihrer spezifischen Merkmale daraufhin, dass hier inmitten slawischen Gebietes des Stammesverbandes der Lutizen Nordländer ansässig waren und in dieser schönen vorpommerschen Landschaft auch ihre letzte Ruhe fanden. In dieser stillen und besinnlichen Naturidylle bei Menzlin, Boden- und Naturdenkmal zugleich, in das sich glücklicherweise wenige verirren, bot sich den Ausgräbern folgendes Bild, wie man es auch heute wahrnehmen kann: Drei Steinschiffe liegen wie in “Kiellinie”, eindeutig heben sich “Bug-” und “Hecksteine” hervor, während die Steine der “Bordwände” mittschiffs wesentlich niedriger sind. Ein anderes erweckt den Eindruck, als sei es ins “Schlepptau” genommen worden. Die Steinschiffe erreichen Längen zwischen 2,30 und 7,50 Metern und Breiten zwischen 2,50 und 4,60 Metern.

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Lutz Mohr in Menzlin

Wie die Forschungen ergaben, haben die ” Wikinger-Toten-Steinschiffe”, in denen sich Urnen fanden, ihre Parallelen in den Grabungsstätten von Lindholm Höje am Limfjord im dänischen Nordjütland mit 682 Bestattungen in 150 steinernen Schiffssetzungen und auf der schwedischen Insel Gotland mit 350 Steinschiffen. Man könnte dazu auch das “Flaggschiff der schwedischen Altertümer”, die größte Schiffssetzung überhaupt, “Ales Stenar” auf der Klippe von Kaseberga bei Y stad hinzurechnen. Das riesige Monument erreicht eine Länge von 67 Metern und wurde insgesamt aus 58 Felsbrocken von Mannshöhe als steinernes Totenschiff errichtet, das an den “Steven” Höhen zwischen 2,50 und 3,30 Metern erreicht. Die Menzliner Steinschiffe zeigen sich dagegen weitaus in bescheideneren Ausmaßen. Jedoch lässt sich aus den Menzliner Grabformen und Bestattungssitten ein weiteres Phänomen ableiten: Wie eingangs erwähnt, lebten hier vom 8. bis 10. Jahrhundert neben einer einheimischen slawischen Bevölkerung, den Lutizen (Wilzen) zugehörig, wie Keramikfunde beweisen, auch dänische oder wahrscheinlicher schwedische Wikinger als Händler und Handwerker sowie nordische Frauen. Slawische Gräber fanden sich bisher in Menzlin nicht, jedoch Bestattungen der Bronzezeit (1800-700 v. Chr.) und der vorrömischen Eisenzeit (7.-1. Jh. v. Chr.), die aber in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtert werden sollen.
Wie die Archäologie und die Wikingerforschung desweiteren ermitteln konnte, waren schwedische Wikinger weitaus früher als dänische oder norwegische an die südlichen und östlichen Küstengegenden der Ostsee gelangt. Sie sind dabei sicherlich über das Oderhaff (Stettiner Haft) ins Hinterland auf der Peene bis nach Menzlin vorgedrungen, spätere Nordländer anscheinend sogar die Peene aufwärts über Gützkow – Jarmen – Demmin bis nach Malchow im heutigen Ostmecklenburg, wie entsprechende Funde dokumentieren. Jedenfalls haben die Wikinger von Menzlin ihre Toten neben der Siedlung auf einem eigenen Friedhof gemäß skandinavischer Riten beigesetzt. Die in Menzlin vorkommende skandinavische Grabsitte, Tote mit ihren Beigaben in Steinschiffen beizusetzen, entsprach heidnisch-nordischen Vorstellungen, damit in die Heimat zu ihren Göttern Odin, Thor, Freyr, Njörd oder Balder zurückzukehren oder für immer ins Totemeich der Göttin Hel zu fahren. Funde von Thorshämmern untermauern die mythologischen Vorstellungen der Wikinger. Das Menzliner wikingische Gräberfeld offenbarte eine weitere Besonderheit: Nach den geschlechtscharakteristischen Grabbeigaben in den Brandgräbern, in denen zumeist als Urnen slawische Gefäße der Feldberger Gruppe, der vorherrschenden Keramik des Großstammes der Lutizen vom 7. bis 9. Jahrhundert in Ostmecklenburg und Westpommern, verwendet wurden, handelt es sich merkwürdiger Weise um Wikingerfrauengräber! Es erhebt sich dabei die Frage, wo verblieben die männlichen Wikinger? Anscheinend waren die verbrannten Nordländerinnen, die ovale Scheibenfibeln, zerschmolzene Glasperlen, baltischen Schmuck und eine iroschottische Gürtelgarnitur hinterließen, in dieser Siedlung mit slawischen Männern verheiratet – ein Umstand, den die Archäologie auch bei Nachforschungen in Puttgarden auf der deutschen Ostseeinsel Fehmarn ermitteln konnte.

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Toten-Steinschiffe von Menzlin

Wie die reichhaltigen Kleinfunde aus Menzlin belegen, müssen die offenbar mehr kaufmännisch als kriegerisch veranlagten Wikinger aus dieser Peenesiedlung einen weitreichenden Handel über See abgewickelt haben, der außer in ihre skandinavische Heimat bis nach Irland und das Baltikum reichte. In der Siedlung selbst wurde auch produziert, Bronze und Bernstein zu Schmuck verarbeitet, Spinnwirtel aus Hirschgeweih und Knochennadeln hergestellt, Eisen zu Messern und Pfeilspitzen geschmiedet. Daneben wurden Kämme und Keramik produziert. Spuren von vier Häusern deuteten daraufhin, dass eines als Getreidespeicher diente und drei als “Produktionsstätten”. Da Handel und Handwerk Menzlin als “nichtagrarisches frühstädtisches Zentrum” prägten, war dafür ein geschützter Hafen Voraussetzung, eine sogenannte “Schiffslände”, den hochseetüchtige Schiffe jener Zeit anlaufen konnten, um in Menzlin be- und entladen oder zur Überholung an Land gezogen zu werden. Zahlreiche Funde von eisernen Doppelnieten und Nägel in den Gräbern bekräftigen die Existenz einer derartigen frühen “Werft”. Dass diese wikingisch-slawische Siedlung ihrer Existenz wegen logischer Weise über einen Hafen an der Peene verfügt haben muss, – auch heute ist der Fluss in diesem Bereich schiffbar -, ergab 1990 eine weitere Ausgrabung. In der moorigen Niederung südöstlich der Menzliner Siedlung entdeckten die Schweriner Archäologen eine “Straße” aus Pflastersteinen und Eichenbohlenresten, die anscheinend die höher gelegene Siedlung auf den Peenebergen, die von der Flussseite her wie ein Steilufer mit Küstenschutzwald aussehen, in einer Länge von über 100 Metern mit dem Hafen an der Peene. Die seitlich begrenzte und 3,50 Meter breite ” Wikingerstraße”, die durch dendrologische Untersuchungen etwa um 770 n. Chr. erbaut wurde, ist somit die älteste Steinstraße Mecklenburg- Vorpommerns. Funde von drei Wikingerfibeln im Untersuchungsbereich, lassen sogar die Schlussfolgerung zu, dass neben der Hauptsiedlung auf den Peenebergen eine weitere kleinere Straßensiedlung beidseitig der erhöhten “Hafenstraße ” in der Peeneniederung bestand. Bereits 1974 kamen bei Baggerarbeiten in der Peene nahe dem wahrscheinlichen Hafen ein eisernes Schwert der Wikinger, eine Trense und Tonscherben ans Tageslicht. Der Schwertfund, Pfeilspitzen, Sporen und Zaumzeug könnten auf bewaffnete nordische Kaufleute hinzielen. Mehr oder weniger ist bekannt, dass die Wikinger, die ihre Schiffe ausgezeichnet meisterten, ebenso gut mit Pferden umzugehen wussten. Fremde Händler brachten zudem verschiedene Luxusgüter, vor allem Schmuck mit, aber auch Gebrauchsgüter aus Skandinavien, aus dem baltischen und finnougirischen Raum. Aufgrund der günstigen küstengeographischen und schützenden Lage konnte sich Menzlin im frühen Mittelalter zum “Handelstor der slawischen Lutizen” zu den Ostseeanliegern mit blühendem Handel entwickeln und sowohl seinen wikingisch-slawischen Bewohnern als auch fremden Händlern die Möglichkeit bieten, ein weiträumiges Hinterland über Peene, Trebel und Tollense tief nach Mecklenburg zu erschließen.

Und in der Nähe Menzlins verlief auch die berühmte Handelsstraße “via regia” Hamburg-Lübeck-Burg Mecklenburg-Dargun-Demmin-Usedom, Wollin, einst Jumne-Vineta; oder nach Stettin, dem “Burstaborg” der Nordländer, auf der “internationaler” Verkehr abgewickelt wurde. Die ethnisch gemischte Siedlung Menzlin fand vor oder kurz nach der Jahrtausendwende ein jähes unerklärliches Ende. Aus nordischen Überlieferungen, Sagas und Skaldengedichten und Hinweisen zeitgenössischer Chronisten geht hervor, dass sich um die Mitte des 10. Jahrhunderts im Oderdelta, begünstigt durch den Dänenkönig Harald Blauzahn (um 940-985/86) und den Polenherzog Mieszko I. (um 940-992) besonders militante Wikinger, die sogenannten Jomswikinger, etwa “Inselwikinger”, ansiedelten und einen eigenen Herrschaftsbereich “Gau Jom” im slawisch polnisch-pommerschen Grenzbereich begründeten. Als politisches, militärisches und kultisches Zentrum des Gau Jom galt die Jomsburg mit ihrer wehrhaften Besatzung, die wahrscheinlich an der Spandowerhagener Wiek der Peenemündung oder an den Küsten der Insel Usedom bestand. Die Jomswikinger, die anscheinend von Mieszko I. als Seekrieger zum Schutz der polnisch-pommerschen Küste unter Vertrag genommen worden waren, geboten über eine Flottenmacht von 300 Schiffen. Die dänischen Wikingerkönige, die Jarle, Krieger und Händler hatten aber dabei mehr den Reichtum der bedeutendsten frühmittelalterlichen pommerschen Ostseemetropole Jumne Vineta auf der Usedom benachbart liegenden Ostseeinsel Wollin im Auge, die wie Menzlin im schützenden Hinterland lag, aber für Kundige auf dem Wasserweg gut erreichbar war.

Das Oderhaff mit den beiden Inseln Usedom und Wollin und dem angrenzenden Hinterland entwickelte sich während dieser Zeit zu einem der bedeutendsten Ostseeverkehrsknotenpunkte und politischer Reibungsfläche ersten Ranges, um dessen Einflusssphäre Polen, Pommern, Deutsche und Lutizen miteinander und gegeneinander kämpften und die wikingerzeitlichen Dänen, Schweden, Norweger, ja sogar Färinger und Isländer, dabei kräftig mitwirkten. Die Jomswikinger, nominell sowohl Dänemark als auch Polen verpflichtet, pendelten jedoch zwischen den Fronten und besiegelten somit allmählich ihren Untergang. Es ist denkbar, dass die kontroverse Jomsburg mit ihrer wehrhaften Besatzung zunächst auch Menzlin Schutz bot, ehe die Jomswikinger nach ihren strukturellen Veränderungen und politischen Wandlungen zu Beginn des 11. Jahrhunderts gefürchtete Ostseepiraten wurden und in diesem Zusammenhang offensichtlich auch Menzlin nach Beute heimsuchten, es verwüsteten und die männlichen Bewohner töteten oder in die Sklaverei verschleppten. Darauf könnten das schnelle Ende dieser Siedlung und die Vielzahl der bis zu 850 rechnerisch erschlossenen Gräber hinweisen. Die Menzliner Wikingerfrauen haben aber überlebt und assimilierten sich, wie es scheint, mit benachbarten slawischen Männern. Offensichtlich haben sie ihre Sitten und Gebräuche weitgehend beibehalten. Die zerstörte Siedlung wurde kurzzeitig zu neuem Leben erweckt. Nur so lassen sich die Bestattungen der Wikingerfrauen gemäß ihrer nordischen Riten in Steinschiffen, aber in slawischen Urnen, erklären. Aus den Grabungsergebnissen ist zu schließen, dass in Menzlin offenbar Wikinger und Slawen etwa 200 Jahre friedlich neben- und miteinander gelebt haben. Menzlin als sozusagen erste “Wikingerstadt” Mecklenburg- Vorpommerns gehört somit in die Reihe der frühstädtischen Siedlungen und Seehandelsplätze des 9. und 10. Jahrhunderts im Ostseeraum, wie sie durch Haithabu in Schleswig-Holstein, das schwedische Birka, das dänische Arhus oder das heute polnische Wollin repräsentiert werden. Das frühmittelalterliche Menzlin, das seine Geheimnisse bei weitem noch nicht preisgegeben hat, ist somit das treffende Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern für fruchtbare Wechselbeziehungen zwischen Slawen und Skandinaviern in verschiedenen Lebensbereichen vergangener Zeiten und zugleich ein Beweis dafür, dass die Geschichte unserer heimatlichen Ostseeküste nicht nur durch slawische und deutsche Vorfahren bestimmt, sondern auch durch Skandinavier mitgeprägt wurde, die mit ihren “Wikinger-Toten-Steinschiffen” außergewöhnliche Zeugen ihrer Kultur der Nachwelt hinterließen.

Lutz Mohr (Diplomhistoriker)